Tschiritschs neue Art des Lauschens
Seine Schöpfungen tragen Namen von fast poetischer Qualität. Da gibt es die Wehmutswalze und die Heisere Lunge, das Zwitscheridoo und die Tropfenorgel. Die für ein völlig neues Hörerlebnis sorgende, begehbare Geige hat er gerade an das Museum „Haus des Staunens“ verkauft. Hans Tschiritschs kleine Werkstätte im achten Bezirk ist prall gefüllt mit seltsamen Hybriden. Der Mann verwandelt selbst Nähmaschinen und Badewannen in Musikinstrumente. Neben einer gewissen Exzentrik sind es musikalische Notwendigkeiten, die seinen Erfindungsreichtum vorantreiben.

Angefangen hat alles in beinah konventionellen Bahnen. Als Kind sah sich der 57-jährige Wiener jedenfalls noch nicht als Musiker: „Meine Schwester hat Klavier gespielt, ich aber mochte die Klassik überhaupt nicht. Meine einzigen Talente waren Zeichnen und Basteln.“ Mit 17 Jahren stieg er aus dem Gymnasium aus: „Bei mir ging es von Anfang an um alternative Formen des Sichdurchschlagens. Im Sinne der Sechzigerjahre war das nicht unbedingt ein Misserfolg.“

Bald war Tschiritsch, der mittlerweile leidlich Gitarre und Geige spielte, als vazierender Musiker in Frankreich, Spanien und Italien unterwegs: „Das war meine beste Zeit. Wir waren damals Hippies, haben sehr arm auf dem Land gelebt. Sogar Steine geklopft haben wir, um zu Geld zu kommen. Irgendwann probierten es meine Schwester und ich als Straßenmusiker. Und siehe da, wir verdienten plötzlich an einem Tag so viel wie sonst in einem Monat.“ Tschiritisch baut seinen Act aus, lernt das Marionettenspielen und das Stelzengehen. Nach Jahren des Tingelns kehrt er nach Wien zurück, wo er den Schauspieler Toni Böhm kennenlernt, über den er zur Theatermusik kam. Volkstheater, Theater des Augenblicks und Burgtheater – Tschiritsch war überall tätig.

Das Fixeinkommen beflügelt seine Fantasie. Er beginnt sich mit Obertonmusik zu beschäftigen: „Die Obertonmusik wurde schon Ende der Siebzigerjahre in Wien propagiert. Mehr so von esoterischen Kreisen. Ich bin nach der Öffnung Russlands in die Republik Tuva gereist, um die Grundlagen dieser Musik, die aus schamanischen Ritualen entstammt, zu erlernen. Die Naturtonskala, innerhalb der sich die Obertonmusik abspielt, ist so elementar wie die Schwerkraft. Ich habe den Kontakt zu Musikern gesucht, die leider nur zu oft Alkoholiker waren. Aber ich lernte auch ganz tolle Leute vom heute weltberühmten Huun-Huur-Tu-Ensemble kennen.“

Krönung seiner jahrelangen Beschäftigung mit der Obertonmusik ist nun das eben edierte Album „Neun“ (Hoanzl), das er mit den Akkordeonisten Otto Lechner und Franz Haselsteiner aufgenommen hat. Die vielschichtigen Sounds verbinden Traditionelles und Avantgardistisches, Brachiales und Sensibles. Es betören verquere 9/8-Rhythmen und luzide Improvisationen. Mit Otto Lechner verbinden ihn lange Jahre gemeinsamen Musizierens im „Erstes Strenges Kammerton-Orchester“: „Wir haben fünf, sechs Jahre Impulse gesetzt, kamen aber nicht weiter als bis nach Tirol.“

Strenge und Lieblichkeit haben sich in Tschiritschs Musik immer schon die Waage gehalten. Egal, ob er mit Franz Franz & The Melody Boys mit der singenden Säge Schnulzen traktierte oder zuletzt auf dem Album „Tschiritschs Urwerk Nr. 3“ die Beatles, Mozart und Horace Silver liebevoll dekonstruierte: „Ich begann die Takte zu verändern, um die Menschen aus ihrem Trott zu holen. Manche meinten zwar, ich sei deppert und spiele falsch, aber die meisten fanden Spaß daran.“ Neben dieser liebenswerten sozialen Intention ist Tschiritschs Musik – aktuell etwa das Stück „Schmalzocalypso“ – durchaus subversiv getränkt: „Die Obertonmusik erfordert eine neue Art des Lauschens. Der allgegenwärtige Kitsch ist eine ernst zu nehmende Ausdrucksform. Aber die Schnulze muss letztlich doch zerstört werden.“ Hans Tschiritsch tut es mit ungewöhnlicher Raffinesse.

Samir H. Köck, Die Presse, 25. Februar 2011