25. September 2020
Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt: Sigmund Mire

Erinnerung an das jüdische Leben – Gedenken an die jüdischen EinwohnerInnen
Aus: Vierzehnter Teil – Station 31c, Darwingasse 33

Unser Großvater Sigmund Mire wurde am 26. 8. 1899 in Wien geboren. Die Eltern stammten aus Galizien und waren taubstumm (gehörlos). Sigmund war eines von 6 Kindern. Die Familie war sehr arm und lebte in einem Viertel (Ortnergasse 6 im 15. Bezirk), wo Gewalt an der Tagesordnung war, von Bandenkriegen bis zu Raubüberfällen.

Alle Kinder mussten so früh wie möglich Geld verdienen, da der Vater als ungelernter Arbeiter die Familie kaum ernähren konnte. So wurde unser Großvater ebenfalls Hilfsarbeiter. Mit 18 Jahren wurde er eingezogen und machte den ersten Weltkrieg in Russland und Italien mit. Nach dem Krieg lebte er von Gelegenheitsarbeiten, fand dann eine gut bezahlte Stelle, die er aber mit der Machtübernahme durch die Nazis verlor. Danach musste er in der Leergutsammelstelle arbeiten, wo er fast nichts verdiente. Abends lieferte er Kohlen bei reichen Leuten aus.

Familie Mire

Familie Mire, Foto um 1910: Roise Raab & Solomon Mire; mittlere Reihe von links nach rechts: Joschi, Sigi, Jetti, Melli, Anna; vorne: Franzi

1927 hatte er unsere Großmutter Luise geheiratet, 1928 kam unsere Mutter Elfriede zur Welt. Sowohl unsere Großeltern als auch deren Eltern auf beiden Seiten waren überzeugte Sozialdemokraten. Sie waren Träger der „Arbeiterkultur“ im „Roten Wien“, wodurch unsere Mutter nachhaltig geprägt wurde. Dieses Gedankengut hat sie auch ihren Kindern vermittelt.

1938 hätte die Familie, so wie die Geschwister unseres Großvaters, die Möglichkeit gehabt, nach England zu emigrieren. Sie hätten Arbeitsplätze als Köchin und Gärtner auf einem Schloss bekommen, aber sie zögerten zu lange, und irgendwann war es zu spät.

So kam es am 3. Juli 1943 zur Verhaftung unseres Großvaters. Sie folgte auf die Verhaftung seines Schwagers Franz Prikryl. Beide waren Mitglieder einer Widerstandsgruppe um Josef Landgraf. Prikryl war laut Gestapo „geständig, zusammen mit dem Juden Mire englische Hetzsender abgehört und das Gehörte an Landgraf weiterverbreitet zu haben“. Über den noch jugendlichen Josef Landgraf wurde ein Todesurteil verhängt, das später in eine 7-jährige Haftstrafe umgewandelt wurde. Franz Prikryl wurde wenige Tage vor Kriegsende von der SS im Zuge des Massakers vom 6. April 1945 in der Strafanstalt Stein erschossen.

Familie Mire

Sigmund Mire

Sigmund Mire wurde wegen „Rundfunkverbrechen in Verbindung mit Vorbereitung zum Hochverrat“ ohne Gerichtsverhandlung nach Auschwitz deportiert. Von dort wurde er in das KZ Warschau überstellt, das auf dem Gelände des ehemaligen Warschauer Ghettos errichtet worden war. Schlechte hygienische Bedingungen führten mehrfach zu Typhus-Epidemien. Auch auf der Todesbestätigung von Sigmund Mire vom 12. Februar 1944 wird „Flecktyphus“ als Todesursache angegeben. Das könnte der Wahrheit entsprechen, war aber auch eine gebräuchliche Standardformulierung zur Vertuschung von Verbrechen.

Sigmunds Bruder Josef Mire, der in die USA emigrieren konnte, beschreibt unseren Großvater in seinen Memoiren als „lighthearted and easygoing“. Wir hätten ihn gerne kennengelernt.

Thessi Rauba & Hans Tschiritsch (Enkelkinder)
auch im Namen aller Verwandten

Termin:
Sonntag, 4. Oktober 2020 – Darwingasse 33, 1020 Wien
Steine der Erinnerung – Steinsetzung für Sigmund Mire
ca. 14 Uhr (vor dem Haus) es spielen die NoMaden im Gleichschritt

  Broschüre Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt - Vierzehnter Teil
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